Sie selbst wird sich, anders als die meisten Brasilianer, kein Spiel dieser WM ansehen. Sie würde sich damit zur Verbündeten einer Sache machen, gegen die sie kämpft, findet sie. Doch es ist nicht allein mit dem bevorstehenden Spiel zu erklären, dass an diesem Mittag nicht mehr Einwohner von Belo Horizonte gekommen sind. Es liegt auch an der Wucht, mit der die Polizei hier auftritt. Seit Beginn der WM ist oft zu hören, dass viele Brasilianer nicht fernbleiben, weil ihnen die Demonstrationen gleichgültig wären. Sondern, weil sie Angst haben. An diesem Mittag wird klar, wie viel Aufwand die Polizei betreibt, um diese Angst nicht verglimmen zu lassen.
Zwei Einheiten sind hier zusammengezogen. Die eine kommt von der Militärpolizei. Junge Männer in weißen Helmen und freundlichem Logo mit blau-gelb-roten Streifen: „Batalhão Copa“ heißt es darauf, das WM-Bataillon. Ein wenig wirken sie wie die netten Jungs, die den Demonstranten freundlich, aber bestimmt zu verstehen geben, dass die sich doch bitte zu benehmen haben. Nur wenige Meter entfernt haben sich die Männer aufgebaut, die eingreifen, sollten sie dieser Bitte nicht folgen. Ihre Helme sind schwarz. Manche tragen Tücher vor dem Mund. Einige haben dunkle Sonnenbrillen auf. Demonstrativ halten ein paar Maschinengewehre vor dem Körper. Es sind die „Choque“-Einheiten, die speziell geschult wurden und deren Einsätze zu Beginn der WM im Fernsehen übertragen wurden, so dass jeder sie sehen konnte. Die Botschaft war unmissverständlich: Wer Ärger möchte, wird Ärger bekommen. Und was Ärger ist, bestimmen wir.
Als sich gegen zwölf der Demonstrationszug in Bewegung zu setzen versucht, geht alles sehr schnell. Aus allen Richtungen strömen die Einheiten zusammen und bilden um den Platz innerhalb weniger Minuten einen Kessel. Vor einem Jahr waren es die Demonstranten, die die Straßen blockiert haben. Heute sind es die Polizisten. Und mit einem Mal herrscht auf dem Praça Sete de Setembro eine Atmosphäre, bei der nur ein Funke fehlt und die Situation eskaliert.
Mittendrin, bewaffnet mit Videokamera, Fotoapparat und Aufnahmegerät, steht Mário Lúcio C. de Paula. Der 33-Jährige arbeitet als Redakteur für „A Nova Democracia“. Die kleine unabhängige Zeitung aus Rio de Janeiro gehört zu denen, die seit den Protesten im vergangenen Jahr die Aufgabe übernommen haben, die Aktionen der Polizei zu dokumentieren, zum Teil live im Internet. Die Polizei reagiert darauf, indem sie die Reporter akribisch untersucht. Im vergangenen Jahr wurden laut seiner Aussage mehr als 40 Journalisten mit Gummiknüppeln angegriffen, einer verlor sogar sein Auge. Auch er wurde heute schon kontrolliert. Langsam spaziert er über den sich mehr und mehr leerenden Platz und beobachtet, wie nichts geschieht. Lange hat er sich mit seinen Kollegen darüber unterhalten, was in seinem Land gerade geschieht. Und dies ist die Antwort, die sie darauf gefunden haben:
Die geringe Beteiligung an der Demonstration ist auch für ihn kein Grund, am Protestwillen der Brasilianer zu zweifeln. Seine Landsleute seien nun mal verliebt in Fußball, sagt er. Aber sie wüssten genau zu unterscheiden zwischen dem Wettkampf und dem, was die Fifa daraus macht. Als sich die brasilianische Nationalmannschaft zur Hymne aufstellt, verteilen sich nur noch wenige Menschen auf dem Platz. Diejenigen, von denen es um eins noch genau so viele gibt wie um halb elf, sind die Polizisten. Vom 1:0 erfahren sie nur durch den Jubel, der aus so gut wie allen umliegenden Häusern dringt. Und durch die weißen Schnipsel, die wie aus dem Nichts vom Himmel regnen.
3 Kommentare zu “Tag 24: Demonstrieren bis zum Anpfiff”
Oh, das ist fast so als wäre ich dabei gewesen. Danke für diesen Bericht. Die Rastas vom Praca 7, die Lanchonete, die politischen Aktionen … viel Spass in Minas Gerais!