Tag 15: Zu müde zum Protest

Wenn im Morgengrauen der Hahn auf dem Nachbargrundstück kräht…

…kriecht Luciana Cabral dos Santos aus den Federn. Bei ihr sind die Federn eine einfache Steppdecke. Für mehr reicht das Geld nicht, das sie mit Putzen und Kinderbetreuung verdient. Sie lebt im Arbeiterviertel Horizonte Azul, tief im Süden von São Paulo, wo sich eine Favela mit ihren zusammengewürfelten Häusern und Straßenzüge mit verputzten Fassaden mischen. Etwa 30 000 Menschen leben dort. Lucianas Arbeitgeber dagegen sind alle im Zentrum. Das macht die Verkehrsbedingungen zu einem Problem, das tief in ihr Leben eingreift. Um zur Arbeit zu kommen, muss sie drei Busse und eine Bahn nehmen. Das ist ein Weg von drei Stunden – wenn alles gut geht. Wenn es Stau gibt, können es auch gern bis zu vier Stunden werden.

Zwölf Bahn- und etwa 700 Buslinien hat die Megacity. 15 000 Busse sind Tag für Tag im Einsatz. Alle Verbindungen sind auf das Zentrum ausgerichtet. Wer wie Luciana in der Peripherie lebt, holpert täglich mehrere Stunden im Stehen durch die Stadt, aneinander gequetscht mit dem Achselschweiß seines Nachbarn in der Nase. Obwohl Luciana gelernt hat, sich mit diesen Strapazen zu arrangieren: Erschöpfung ist ihr ständiger Begleiter. Unter der Woche muss sie in der Regel mit fünf Stunden Schlaf pro Nacht auskommen.

Nicht nur für Luciana, für alle Bewohner São Paulos ist der Verkehr ein ständiges Ärgernis. Die landesweiten Demonstrationen während des Confederations Cups im vergangenen Jahr entzündeten sich an der geplanten Erhöhung der Fahrpreise. Auch die deutlich besser angebundene Mittelschicht war auf die Straße gegangen. Viele nutzen jetzt die Weltöffentlichkeit, die ihnen die Weltmeisterschaft bietet. Die Proteste vom vergangenen Donnerstag beispielsweise hatten einen Gratis-Nahverkehr zum Ziel. Wer kein Bilhete Único besitzt, eine aufladbare Fahrkarte, mit der man innerhalb von drei Stunden vier Fahrten zum Preis von einer absolvieren kann, muss für jeden Bus und jede Bahn neu bezahlen. Das kann teuer werden, wenn man wie Luciana dreimal umsteigen muss. Für die Bewohner von Horizonte Azul bedeutet das mitunter das halbe Monatseinkommen. Viele bleiben den Protesten trotzdem fern: Sie sind schlicht zu müde.

Ihre Kraft zieht Luciana aus ihrer Familie. Mit ihrer Lebensgefährtin Paloma und deren Sohn Daví lebt die 30-Jährige in zwei kleinen Zimmern mit Küche. Horizonte Azul gehört zum sehr armen Distrikt Jardim Ângela, der Ende der neunziger Jahre einer der gefährlichsten der Welt war. Die für die Favelas bekannten Probleme wie Drogen, Gewalt und Kriminalität gibt es dort hinter jeder zweiten Haustür. Auch Luciana hat sie in ihrer Familie erlebt. Damit findet sie sich inzwischen ab. Es ist Vergangenheit. Heute dient alles, was sie tut, dem Wohl ihrer eigenen Familie. Als Ernährerin der Familie sorgt sie dafür, dass Strom und Wasser bezahlt werden und Daví sein Schulmaterial bekommt. Doch auch bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zuhause kommt ihr der Verkehr in die Quere. Sie will für ihre Familie da sein, kann es aber nicht.

“Es ist ein schlechtes Gefühl. Denn ich oft habe ich den Eindruck, dass ich gar nicht in meinem eigenen Haus wohne. Ich komme nach Hause, um zu schlafen, um zu gucken, ob alles gut ist. Aber oft habe ich nicht mehr die Energie für eine gute Erziehung oder um mich mit Daví hinzusetzen und ihm eine Hausarbeit zu zeigen. Oft muss ich das per Telefon machen. Ich rufe also zwei, drei Mal pro Tag zuhause an, um zu wissen, ob er schon von der Schule gekommen ist, um zu wissen, ob es Paloma gut geht, um zu wissen, ob irgendetwas fehlt. Das ist meine Art, Präsenz zu zeigen. Aber es ist nicht die Art, wie man es machen sollte. Eigentlich sollte ich hier sein, um ihnen auch zu helfen, denn alle Hausarbeit und die Erziehung von Daví bleibt so an Paloma hängen.“

Luciana ist keine Frau, die sich von den Verhältnissen, in denen sie lebt, in die Knie zwingen ließe. Auf die Frage, ob sie zufrieden sei mit ihrem Leben, mit den ständigen Busfahrten und einem Verkehr, der sie kaum zur Ruhe kommen lässt, antwortet sie mit ihrer tiefen Stimme:


“Es ist schwierig, oft ermüdend, aber insgesamt bin ich glücklich. Das kann ich mit hundertprozentiger Sicherheit sagen. Ich habe nicht alles, was ich gerne hätte, aber ich bin alles, was ich gerne sein möchte. Ich finde diese Frage wichtig.“
Und dann erwärmt ihr rauchiges Lachen den Raum. Bis schon bald der Hahn wieder kräht.

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